Anton Räderscheidt

Barjols

Der Maler der Neuen Sachlichkeit

1963

Erinnerungen von Gisèle Räderscheidt an eine Reise mit Anton Räderscheidt und Ihren Söhnen Vincent und Pascal nach Barjols im Jahre 1963

Barjols

erster Besuch im Jahr 1963
Im Sommer des Jahres 1963 als wir aus den Ferien zurückkamen, hatte Anton Lust, Barjols wieder zu sehen. Wir hatten einen glücklichen Monat in La Ciotat mit Vincent und Pascal verbracht und Etienne hatte uns einen Blitzbesuch gemacht.
In Barjols hatte sich nichts verändert. Anton zeigte uns das Haus, in dem Ilse und er mit den beiden Kindern Ernst und Brigitte gewohnt hatten: ein Bistro mit einer Terrasse. Auf ebendieser Terrasse hatten sie damals, um nicht Hungers zu sterben, Kaninchen gezüchtet. Wir waren alle sehr entspannt, Anton ließ von seiner Gemütsbewegung nichts durchscheinen. Auf diesem Gebiet war er ein Meister. Wir suchten die Brunets und gingen zum Tabakladen, den sie früher einmal hatten. Dort erfuhren wir, dass sie sich von ihrem Geschäft zurückgezogen hatten und nun ein paar Häuser weiter wohnten. Anton klopfte und zwei alte Leutchen empfingen uns, zuerst waren sie verblüfft und verstanden die ganze Situation nicht, ich war jung, in Bermudas, braun gebrannt und ohne jeglichen Bezug zur Vergangenheit. Nachdem ihre Überraschung abgeklungen war und sie begriffen hatte, dass ich Antons neue Frau und die Mutter dieser beiden hübschen Kinder war, verfinsterte sich Madame Brunets Gesicht. Sie war in Antons Alter, die Eifersucht war in ihr hochgestiegen und begann aus ihren Augen zu funkeln, der alte Brunet war dagegen ganz ausgelassen und schien überhaupt nichts gegen ein bisschen Jugend in seinem Haus zu haben.
Nachdem sie einigermaßen zur Besinnung gekommen waren, fragten sie Anton:“ Sind sie gekommen, um Ihre Geschäfte wieder aufzunehmen?‘! Anton antwortete verwundert: „Welche Geschäfte?“ – „Aber alles, was Sie hier gelassen haben, einen ganzen Keller voll. Wir haben nicht gewagt, etwas wegzuwerfen und wussten einfach nicht, wohin damit.“ Anton war das alles egal. Die Kinder und ich eilten hinter Madame Brunet her in den Keller, Sie holte Kisten voller Bücher hervor, in Leder gebundene Erstausgaben deutscher Klassiker, einen ganzen Stapel wertloses Zeug und dann wieder ein Wunder nach dem anderen: Papierrollen, Zeichenkarton, von Mäusen angenagte Ölbilder und dann alles, was aus Sanary übrig geblieben war. Ich glaube fast, Anton war das unangenehm, am liebsten hätte er nichts wieder gefunden. Die Schulbücher von Ernst hatten ihn wieder ans Grübeln gebracht. Das war es. Sämtliche Zeichnungen und Gouachen aus ‚Les Milles’, die ganze Zeit. von Sanary, Anton hatte so sehr gehofft, den Metzger Lucien Coquillat wiederzusehen, aber er war schon tot. An der Wand der Brunets hing eine Zeichnung, die er ihnen geschenkt hatte die Weizenfelder auf dem Land um Berlin.Wir fuhren zurück nach Avignon, glücklich und triumphierend über unseren Fund, aber ohne etwas verstanden zu haben von dem Drama, das hinter uns lag. Anton hat uns dabei nicht geholfen.

zweiter Besuch in Barjols 1978
Ich fuhr ein zweites Mal nach Barjols, es war im September 1978, nachdem ich mich entschlossen hatte, ernsthaft für eine vollständige Biographie Anton Räderscheidt’s zu recherchieren. Ich hatte nur wenige konkrete Anhaltspunkte – meine Erinnerung und die Erzählungen Antons und Brigittes – Das war alles. Der Besuch von 1963, den ich gerade beschrieben habe, gab mir vielleicht einige Schlüssel. Ich war nicht gerade frohen Herzens, als ich in die Allée Louis Pasteur einbog. Ich ließ meinen Wagen unter den großen Platanen stehen. Es war glühend heiß. Ich setzte mich auf die Terrasse des Cafés unter Antons und Ilses Wohnung und weinte in meinen Pernod. Ich hatte keine Hoffnung mehr. Der Kellner erklärte mir, die Brunets seien gestorben. Anton war auch tot. Ich stand vollkommen alleine da – jetzt war auch ich alt. Ich sah Antons Geist inmitten der Alten beim Boulespielen, ich stellte mir vor, wie Ernst dort mit seinen achtzehn Jahren ankam und seine ersten Gedichte schrieb, die seine letzten sein sollten. Ilse, Arm in Arm mit Anton in ihren letzten glücklichen Jahren, nicht wissend dass ihr Feind der Krebs war und dass er schon in ihr war. Man würde ihr 1944 nach ihrer Ankunft in der Schweiz eine Brust abnehmen und 1946 die andere und 1947 würde sie in Bern sterben. Ich dachte, wie sich genau über meinem Kopf die Tragödie abgespielt hatte, die Ernst das Leben kostete. Wie eines Morgens die Gendarmen an die Tür geklopft hatten. Ernst öffnete Ihnen. Er sprach fließend und ohne Akzent französisch und debattierte mit ihnen, solange er konnte, damit die anderen durch das Fenster in den Hof springen konnten. Sie haben ihn abgeführt. Es war am 7. September 1942. ( Im Register von Serge Klarsfeld: „Le mémorial de la deportation des Juifs en France“ habe ich gefunden, dass Ernst am 7. September 1942 in Drancy ankam, dort „in letzter Minute“ verladen wurde und am 9. September in Auschwitz ankam.) Die Leute um mich herum lachten, eine fette Belgierin leckte gierig an ihrem Eis, Ihre Göre lief zwischen den Tischen herum und ich war in meinen Erinnerungen verloren und starr vor Angst. Ich hatte allen Mut verloren und war mir der Unanständigkeit meines Vorhabens bewusst. Ich hatte den Eindruck, ich vergewaltigte ein Schicksal, das mich nicht anging. Ich war der Eindringling, der sich in ihre Intimität schlich, in diese Familie, die vier Namen hatte und dennoch so einig war. Ich ging zu meinem Wagen zurück, um aus dieser Hölle herauszukommen. Vor dem Haus der Brunets saßen zwei alte, schwarz gekleidete Damen und verschnauften von der Hitze des Tages. Ich fragte sie, wo denn die neue Madame Brunet wohne – der Alte hatte nämlich mit achtzig Jahren noch einmal geheiratet. „Aber das bin ja ich“, antwortete mir die Kleine ganz stolz, “ Was wollen Sie denn von mir?“ Der Geist sprühte aus ihren Augen, ihr Blick war mild, sie hatte einen provenzalischen Akzent – das brachte mich wieder auf die Beine. Ich begann, meine Geschichte zu erzählen und sie lud mich ein, mit zu ihr hinaufzukommen. Und so sah ich diese Wohnung wieder, in der wir dreizehn Jahre zuvor mit Anton waren. Nichts hatte sich verändert und dennoch war es nicht dasselbe. Die beiden kleinen Alten sind ganz aus dem Häuschen – so einen Besuch haben sie nicht alle Tage – sie fallen sich ins Wort, sie lachen, sie erzählen sich Dummheiten wie kleine Schulmädchen im Komplott. Sie sind komisch und erzählen mir komische Sachen. – Sie tun mir richtig gut-.
Ich erfuhr von der Widerverheiratung des alten Brunet. Das war eine sehr schöne Geschichte:
Von Jugend an war sie immer Emils große Liebe gewesen. Sie wohnte in einem kleinen Haus auf dem Land bei Barjols, wo er sie jeden Tag heimlich besuchte. Er verwöhnte und liebte sie sechzig Jahre lang aber seine Frau wollte sich nicht scheiden lassen, erzählte sie. Als die Frau dann starb, kam er mit fliegenden Fahnen, um sie zu heiraten, aber sie weigerte sich. „Schöne Verlobte wären wir“, hatte sie ihm gesagt, „ganz Barjols würde sich totlachen über uns, du mit dreiundachtzig und ich mit fünfundsiebzig“. Schließlich ließ sie sich doch heiraten, er hatte sie überzeugt. Niemals in ihrem Leben sei sie so glücklich gewesen wie in diesen zwei Jahren. „Was wollen sie, meine Liebe, er hat diese Frau eben angebetet“, sagte ihre Verwandte. Madame Brunet zeigte mir das letzte Passfoto- ihres Mannes und erzählte mir, er habe sich für einen Reisepass fotografieren Lassen, denn er wollte mit ihr auf Reisen gehen. Darauf hat sie ihm geantwortet, das würde sich doch nicht mehr lohnen. Sie erzählte das alles sehr jugendlich und mit viel Humor. Sie gefiel mir immer besser. Emile hat zwar noch seinen Reisepass machen lassen, aber für die Reise war ihnen keine Zeit mehr geblieben. „Er ist umgefallen wie ein Hühnchen“, sagte sie, was bedeuten sollte, dass er nicht gelitten hat; er schloss die Augen und es war zu Ende. Sie erzählte einfach, ohne Theater, wie eine Figur von Marcel Pagnol. Ich wurde nicht müde, ihr zuzuhören. Durch die Liebe zu ihrem Mann hindurch schien der Stolz und der Triumph, ihn „gehabt“ zu haben. Nur mit ihr war er glücklich gewesen.
Am nächsten Morgen ging ich wieder zu ihr. Sie bot mir einen Aperitif an und indem sie eine Flasche Marsala vom alten Brunet öffnete, meinte sie: „Der Wein ist italienisch, ich bin Französin und Sie sind Deutsche“ und lachte aus vollem Halse. Ich kann den alten Brunet gut verstehen, wenn ich bedenke, was diese Frau an Charme versprühte und wenn ich die andere vor mir sehe, die richtige, mit der er sechzig Jahre lang unglücklich war und nicht wagte, sich scheiden zu lassen aus Angst vor den Nachbarn und den Kindern. Hatten sie welche? Ich weiß nicht mehr. Ich kann ihn gut verstehen. Ich wollte Photos machen und sagte ihr, ich bereitete fürs Fernsehen einen Film über Barjols vor. Sie sprang vor den Spiegel, betrachtete sich, strich ihr Haar zurecht und sagte: „Was mir für Sachen passieren! Wenn ich das meiner Verwandten erzähle, dass ich ins Fernsehen komme, glaubt sie mir kein Wort!“ Ich glaubte es selbst nicht. Ich nahm Antons Bild von der Wand, um es zu fotografieren. Was für ein merkwürdiges Gefühl, das graue Papier wieder zu finden, das er so liebte, es zu berühren, mit meinem Namen zu versehen und mit einem Zertifikat, falls es verkauft würde. Ihr Arzt lag Ihr schon in den Ohren deswegen, aber aus Liebe zu Emile würde sie sich nie davon trennen. Indem ich dies schreibe, frage ich mich, wie dieses Bild von Anton in Berlin gemalt, nachdem er mit Ilse 1934 aus Köln weggegangen war, bis dorthin gekommen ist. Was für eine Reise! Nun betrachtete sie das Bild und sagte zu sich selbst: „Wenn der Hitler noch leben würde, der würde mich umbringen.“ Das war Blanche Brunet – Ob sie noch lebt?
Nach diesem Besuch fuhr ich noch zwei Mal durch Barjols. Wie eine Diebin, den Kopf zwischen den Schultern eingezogen, fuhr ich schnell im Auto vorbei und schämte mich, als ich sie wie damals vor ihrer Tür sitzen sah, friedlich und traulich wartend, vielleicht von ihrem Emile träumend. Aber ich hatte den Film verdorben, der Apparat hatte nicht transportiert. Auf diesem Gebiet bin ich eben nicht begabt. Ich wollte ihr auch nicht sagen, dass ich sie belogen hatte. Und außerdem war ich nicht allein. Das glaube ich, war der eigentliche Grund. Ich wollte meinen Lebensgefährten nicht mit in Antons und Ilses Vergangenheit nehmen – Das ging ihn nichts an – Das war ganz allein meine Sache.

© alle Rechte bei Gisèle Räderscheidt – Nachdruck auch Auszugsweise nur mit Genehmigung.