Anton Räderscheidt

Les Milles

Der Maler der Neuen Sachlichkeit

1936-1942

Camp „les Milles“, 1940
Pastellkreide

Anton Räderscheidt

„Les internés et le verre d‘eau“, 1942
Pastellkreide

Anton Räderscheidt

Les Milles

Im Internierungslager „Les Milles“ einer ehemalige Ziegelei  bei Toulon hat die Regierung Petain viele Deutsche Künstler darunter Max Ernst, Anton Räderscheidt, Wols, Feuchtwanger hinter Mauern und Stacheldraht festgesetzt. In der Ziegelei erinnern noch heute Wandbilder an das makabren Zentrum deutschen Geisteslebens.

Die Situation der Emigranten, die sich in Frankreich als klassischem Asylland in relativer Sicherheit wiegten und der Sympathie ihres Gastlandes zu erfreuen schienen, hatte sich bereits seit Mai 1938 kontinuierlich verschlechtert. Nach und nach wurde ein ganzer Katalog von Maßnahmen und Gesetzen zur Regelung der Registratur und Überwachung von immigrierten Ausländern erstellt und Vorbereitungen zu ihrer Internierung getroffen. Im Frühjahr 1939 hatte die Nervosität der französischen Regierung zugenommen. Ausländer, besonders Deutsche, galten zu dieser Zeit als äußerst verdächtig. Die konservative Presse trug das ihrige dazu bei, die französische Öffentlichkeit gegen die ausländische Bevölkerung aufzuhetzen. In jedem deutschen Touristen war potentiell ein nationalsozialistischer Geheimagent zu vermuten. Das konservative Blatt „Le Jour’“ hatte bereits in einem Artikel vom September 1938 vorgeschlagen, die Ausländer zur vollständigeren Bewachung am besten in Lager zu internieren.
Im Frühjahr 1939 wurden die Flüchtlinge des spanischen Bürgerkrieges in Aufnahme- und Sammellagern festgesetzt; unmittelbar nach Kriegsausbruch erfolgte die zweite Internierungswelle, die sich gegen die deutschen Emigranten richtete. Am 7. September 1939 wurden alle männlichen Emigranten zwischen siebzehn und fünfzig Jahren durch öffentliche Bekanntmachung aufgerufen, in den ihnen nächstgelegenen Sammellagern vorzusprechen, um sich dort durch die französischen Militärbehörden überprüfen zu lassen. Für Anton Räderscheidt, Gert Kaden und Alfred Kantorowicz bedeutete dies, sich am nächsten Tag in den so genannten „Baracken von Toulon“ einzufinden. Über das Leben in diesem Lager, das noch zu den humaneren zählte, berichtet Alfred Kantorowicz in seinem Buch „Exil in Frankreich“.  Seinen Tagebuchaufzeichnungen, die diesem Werk zugrunde liegen, und den Erinnerungen weiterer Mithäftlinge und Leidensgenossen verdanken wir heute die wenigen Informationen über Räderscheidts Leben während der Jahre 1939 bis 1942 – eine Zeit, die für Räderscheidt die schlimmste seines Lebens gewesen sein muss und über die zu sprechen er sich später stets weigerte. Damals erreichte das Desaster des Krieges den Höhepunkt seiner Auswirkungen auf das Leben der Menschen, die, auch wenn sie überlebten, allzu oft an Körper und Geist gebrochen blieben. Es gibt keine Lagerberichte, in denen nicht von Depression, Wahnsinn und Selbstmord die Rede gewesen wäre. Selbstverständlich musste sich diese extreme existentielle Bedrohung auf das künstlerische Potential der geschundenen Menschen auswirken. Das wahre Ausmaß der dadurch entstandenen Schäden, das allenfalls an den Überlebenden zu messen wäre, ist allerdings bis heute kaum erkannt, geschweige denn gewürdigt worden. Selbst ein gut gemeinter und denkwürdiger Satz wie der von Theodor W. Adorno, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne, bedeutet in seiner Ästhetisierung ein schnelles und verdrängendes Ablegen des Problems, welches das einzelne Künstlerschicksal und damit jeden einzelnen Betroffenen mundtot macht. Natürlich hat man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben können aber wie hat man sie noch schreiben können, wie haben die Betroffenen sie noch schreiben können? Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist man bis heute dieser Frage weitgehend ausgewichen und hat damit eine Gelegenheit versäumt, Wiedergutmachung dort zu leisten, wo sie am nötigsten gewesen wäre, an der künstlerischen Persönlichkeit der Opfer durch die angemessene Würdigung ihres nach Auschwitz entstandenen Werkes. Im Folgenden muss, um also der künstlerischen Persönlichkeit Räderscheidts gerecht zu werden, zunächst ausführlich auf seine damaligen Lebensumstände eingegangen werden, zu deren möglichst authentischer Schilderung die Zeitzeugen selbst sprechen sollen.
Kantorowicz (der im sechzig Kilometer von Sanary entfernten Bormes lebte) und Räderscheidt lernten einander erst im Lager kennen, wo sie, wie Kantorowicz schreibt, mit anderen Häftlingen zusammen »eine kleine Tischgemeinschaft« bildeten, »abends bei Kerzenlicht anhand einiger Skizzen von Räderscheidt über abstrakte Malerei diskutierten« und sich anfreundeten. Nach neun Tagen, am 17. September, wurden Räderscheidt, Kantorowicz und ihre Leidensgenossen unter den Schmähungen der Bevölkerung, die sie für gefangene Nazis hielt, in das Sammellager Les Milles bei Aix-en-provence deportiert. Dort sollte anhand der im deutschen >Reichsanzeiger< veröffentlichten Ausbürgerungslisten ihre politische Unbedenklichkeit überprüft werden und wie sich schließlich für Räderscheidt bereits nach ein oder zwei Tagen, für Kantorowicz am 23. September herausstellen und ihnen die Rückkehr zu ihren Familien nach Sanary und Bormes ermöglichen. Räderscheidt und Kantorowicz sahen einander zum Jahreswechsel 1939/40 wieder, als der Schriftsteller mit seiner Frau Friedel in Sanary, Marta und Lion Feuchtwanger besuchte, deren Villa Valmer direkt neben der Räderscheidts und Ilse Salbergs lag. Kantorowicz schreibt über seinen Besuch in „Le Patio“: »In anderer Weise erholsam waren die Stunden bei Feuchtwangers Nachbarn, dem Maler Anton Räderscheidt, dessen „Haltung“ (ich gebrauche diesen Begriff absichtsvoll) in den Baracken von Toulon ich schätzen gelernt hatte. Er war ein großer, schlanker Mann Ende Vierzig, mit einem schmalen, länglichen Gesicht, von verschlossenem, etwas brummigem Wesen. Er hatte, wie so viele andere Deutsche, die von den Nazis als „undeutsch“ bezeichnet wurden, nach Hitlers Machtantritt seine rheinische Heimat verlassen, ohne rassisch oder politisch dazu genötigt zu sein; allerdings war die Frau, mit der und deren Sohn er zusammenlebte, nach den Nürnberger Rassegesetzen „nicht ganz einwandfrei“. Auch als Künstler kam er dem Primitivismus der erfolgreichen Herren vom >Reichsverband bildender Künstler Deutschlands< nicht entgegen. Er hatte in den zwanziger Jahren mit seinen (nachexpressionistischen) Porträts Erfolge gehabt. Da er kompromisslos geblieben war, wurde er zum >Entarteten Künstler< erklärt, seine in Kölner, Düsseldorfer, Essener, Krefelder, Nürnberger und Berliner Museen befindlichen Bilder wurden vernichtet. Mit ihm sprach man Erholsamerweise nicht über Literatur oder Politik, sondern über Kunst (und da hatte ich viel zu lernen), oder man schwieg mit ihm, was man mit wenigen Menschen kann. Das Leben in Freiheit sollte für die deutschen Emigranten nicht lange dauern. Der Beginn der Hitler-Offensive gegen den Westen, die Niederlande, Belgien und Frankreich ließ Schlimmes befürchten und bereits am 14. Mai 1940 verkündete die Presse, dass alle freigelassenen männlichen Emigranten im Alter von siebzehn bis fünfundsechzig Jahren wieder interniert würden. Kurz nach der Ernennung Marschall Petains zum stellvertretenden Ministerpräsidenten am 18. Mai wurden Räderscheidt und Ernst Meyer, der bei Kriegsausbruch aus seinem Londoner Internat nach Sanary gekommen war, aufgefordert, sich am 21. Mai im Lager von Les Milles einzustellen. Lion Feuchtwanger beschreibt in seinem Buch >Der Teufel in Frankreich< 189, wie sie sich tags zuvor auf dem Bürgermeisteramt von Sanary einen Passierschein ausstellen ließen und nach Les Milles aufbrachen »Wir waren unserer viere, die morgen nach Les Milles abzugehen hatten: jener Maler R. [Räderscheidt], mein Nachbar, dann sein Sohn, der gerade siebzehn geworden war und also auch daran glauben musste, dann ich, schließlich noch der Schriftsteller K. [Kantorowicz], ein Deutscher, der in Spanien auf Seiten der Republik gefochten hatte<.  So wie für Ludwig Marcuse Sanary in den zwanziger und dreißiger Jahren die »Hauptstadt der deutschen Literatur« darstellte, muss man nun die französischen Internierungslager Retrospektivais Zentren deutscher Kultur auffassen. Unter prekären Umständen trafen sich dort Persönlichkeiten wieder, die das kulturelle Leben in Deutschland entscheidend mitgeprägt hatten, in Les Milles Walter Hasenclever, Golo Mann, Max Ernst, Wols (Wolfgang Otto Alfred Schulze-Battman), Hans Bellmer und Räderscheidts engster Freund Heinrich Maria Davringhausen, um nur einige Namen zu nennen. Das Leben im Lager von Les Milles, einer stillgelegten Ziegelfabrik, in der nun 3000 Emigranten interniert waren, wird von vielen Insassen, besonders von Feuchtwanger und Kantorowicz, ausführlich und eindringlich beschrieben. »In einem Ziegelbau waren wir untergebracht, und die Ziegel waren das Merkmal dieser Zeit. Ziegelmauern, durch Stacheldraht gesichert, schlossen unsere Höfe von der schönen, grünen Landschaft draußen ab, zerbröckelnde Ziegel waren überall gestapelt, sie dienten uns als Sitze und als Tische, auch dazu, das Strohlager des einen von dem des anderen abzutrennen. Ziegelstaub füllte unsere Lungen, entzündete unsere Augen. Lattengestelle für die Ziegel liefen die Wände der Säle entlang und nahmen uns noch mehr weg von dem spärlichen Raum und von dem spärlichen Licht, und wenn uns kalt war, dann mochte wohl der eine oder andere von uns hineinkriechen in einen der leeren, großen Öfen, die zur Herstellung der Ziegel bestimmt gewesen waren, und sich wärmen an den Assoziationen des Wortes Ofen. Wir mussten die Ziegel herumtragen, bald stapelten wir sie hier, bald dort. In Schubkarren fuhren wir sie herum, und dann, unter dem Kommando eines Sergeanten, warfen wir sie von Hand zu Hand und schichteten sie in bestimmter Ordnung. Die Arbeit war nicht eben schwer: Das Ärgerliche, Empörende daran war ihre vollkommene Sinnlosigkeit, denn sie war uns nicht aufgetragen zu einem vernünftigen Zweck, man wollte uns lediglich beschäftigen. Wir wussten, wir würden morgen oder übermorgen oder spätestens am dritten Tag die schön errichteten Ziegelstapel wieder zerstören und anderswo neu aufbauen müssen.« Neben der in ihrer Sinnlosigkeit entwürdigenden Arbeit und dem physischen Leiden an Typhus und Ruhr, begünstigt durch katastrophale hygienische Bedingungen, unzureichende Ernährung und mangelnde medizinische Versorgung, litten die Häftlinge besonders unter der Sorge um ihre Frauen und Kinder, die, wie sie erfuhren, bald nach ihren Männern in das berüchtigte Pyrenäenlager Gurs deportiert worden waren.192 Für viele unerträglich war zudem die ständige Gefahr, am Ende noch den immer näher rückenden Nazis ausgeliefert zu werden, wozu sich die französische Regierung unter Petain schließlich im Waffenstillstandsvertrag vom 22. Juni verpflichten sollte.193 Einen Tag zuvor, am 21. Juni 1940, nahm sich Walter Hasenclever in Les Milles das Leben, nicht ahnend, dass der nächste Tag eine Wende bringen konnte, die Franz Schoenberner, der in Les Milles internierte letzte Chefredakteur des >Simplicissimus<, in seinem Buch >Innenansichten eines Außenseiters<  beschreibt. Am Tag der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages mitsamt seinen Auslieferungsparagraphen nämlich wurde ein Transport derjenigen Gefangenen organisiert, für die eine Auslieferung den sicheren Tod bedeutet hätte. Ein Zug sollte zweitausend Männer nach Bayonne bringen, von wo aus sie nach Nordafrika verschifft zu werden hatten. In Bayonne angekommen, »wurde der Transport mit der Nachricht empfangen, dass die Deutschen in zwei Stunden da sein würden. Also ging die Fahrt auf der gleichen Strecke zurück, immer verfolgt durch das Gerücht von nahenden deutschen Armeen. In Wirklichkeit lag hier ein groteskes Missverständnis vor da der Zugkommandant den Transport telefonisch in Bayonne als einen >Zug mit Boches< angekündigt hatte, glaubte man dort deutsche Truppen in der Nähe, so dass die qualvolle Rückfahrt zu einer tragikomischen Flucht vor dem eigenen Schatten wurde.« Nimes war die Endstation des so genannten Gespensterzuges. Dort wurden alle Häftlinge ausgeladen und mussten einen Fußmarsch zum etwa zwanzig Kilometer entfernten Lager Saint-Nicolas antreten, den die Kranken und Erschöpften kaum mehr bewältigen konnten. »Alle paar Meter stellten die älteren Herren ihre Koffer und Bündel ab. Einige hatten besonders auffällige große, rechteckige Pappen unter einen Arm geklemmt, das waren die Maler und Graphiker Räderscheidt, Isenburg, Max Ernst, die sich von ihren im Lager gemalten Bildern oder Zeichnungen nicht trennen wollten.« Räderscheidt, Ernst Meyer, Kantorowicz und Davringhausen nutzten den Marsch nach Saint Nicolas, der für die wenigen Bewacher kaum noch überschaubar war, zur Flucht.