Anton Räderscheidt

Lucien Coquillat

Der Maler der Neuen Sachlichkeit

1896-1977

Lucien Coquillat -Metzger und Retter-

Madame Brunet schickte mich zum Bruder ihres Mannes, der mir vielleicht Auskunft geben könnte, denn bisher hatte ich eigentlich nichts erfahren, was mir für meine Recherche weitergeholfen hätte. Der zweite Name auf meiner Liste war der des Metzgers Coquillat. Bei ihm hatte Anton sein Fleisch gekauft und daraus war dann eine gegenseitige Zuneigung entstanden und eine hohe gegenseitige Achtung. Coquillat kann kein Mann wie jeder andere gewesen sein. Wenn Anton von ihm sprach, war es, als stände er leibhaftig vor mir. Ich läute also beim Bruder. Nichts rührt sich, Stille. Ich läute wieder und eine Stimme hinter der Tür fragt, was es denn gebe, ich nenne den Namen Brunet und Alfonse lässt mich endlich hinein. Argwöhnisch, denn wie alle mag er nicht an die vierziger Jahre erinnert werden, ich sehe mich um. Seine Frau ist auch da. Ich sage mein Sprüchlein auf. Sie rühren sich nicht, aber dann entschließen sie sich doch, mit mir zu Coquillats Tochter zu gehen, seine Frau ist aufgeregt, so kann sie nicht über die Straße gehen, sie muss sich umziehen. (Rührend, denn das Haus des Metzgers steht nur fünfzig Meter weiter, also gleich um die Ecke.) Für sie ist das ein Ereignis. Sie wählt ein violettes Seidenkleid mit dicken Blumen, das sie eigentlich nur an Hochzeiten und Kommunionen anzieht, sie hat inzwischen ein bisschen zugenommen und kommt schlecht hinein. Ihr Mann muss ihr behilflich sein, ganz penibel zieht er ihr den Reißverschluss über den Rücken, ich muss lächeln und denke an Felix Krull und die Frau des Gänseleberfabrikanten “Kühner Knecht und so weiter…“. Wir bereiten uns auf den Besuch beim Metzger vor. Das ist ein Umstand er richtet ihr das Kleid, er klopft sie ab, streicht die Falten glatt. Nach fünfzig Ehejahren hat er ein Auge dafür. Sie lächelt, sie ist ganz fröhlich, sie macht sich schön, es passiert etwas, für sie ist das ein wichtiger Ausgang. Ich bin das Publikum und amüsiere mich. Ich stelle fest, dass die Frauen immer viel aufgeweckter sind und eine Situation einfach immer viel schneller begreifen als die Männer. Wir stehen vor der Tür eines alten Hauses, des Hauses der Coquillats. Sehr feudal, mit Holztäfelung, riesigen Räumen und enormen Mauern, aus denen Kälte strömt. Die Tochter von Coquillat kann sich nur schlecht erinnern, sie fühlt sich nicht wohl dabei. Sie ist nachlässig gekleidet, ihre Bluse halb offen, ein Knopf fehlt, und während sie ihre Erinnerungen zusammenfegt, verfolgt mich ihr blauer Schlüpfer, wir sind im Hof. Eine Frau, ihre Tante, die Schwester ihres Vaters – „Sie ist aufgeweicht“, sagt sie, ich frage, was sie damit meine, und indem sie die Augen nach oben rollt und mit ihrer Hand an ihrem Kopf vorbei wischt, antwortet sie: „Sie ist bekloppt.“ Aha. – Ihre Tante putzte einen Waschkessel voll grüner Bohnen zum Einmachen. Ein Mann, schüchtern und farblos, servierte uns Pernod – ihr Freund, vermutlich, es war immer noch furchtbar heiß. Diesen Leuten kommt kein „mein Lebensgefährte“ über die Lippen. Das ist den Intellektuellen vorbehalten, also murmeln sie eben irgendwas daher. Sie verliert sich in ihrer Kindheit und vergisst mich vollkommen. Ich bin müde und erfahre nichts. Als ich am nächsten Tag wiederkomme, will sie ihre Schwester anrufen, die mit Brigitte zur Schule gegangen ist. Sie geniert sich und sagt, ihre Mutter habe verboten, von „diesen Leuten da“ zu sprechen, denn sie seien „versteckte Juden“. Sie erinnert sich, wie ihre Mutter versucht hat, Coquillat daran zu hindern, sie in seinem Wagen mitzunehmen „weil er dabei sein Leben riskierte“ und dieser Satz sei ihr nicht aus dem Kopf gegangen, sagt sie, denn „Madame, damals liebte man seine Eltern.“ Soviel an Nüchternheit rührt und langweilt mich auf einmal. Alles, was sie von diesem Drama zu erzählen weiß, ist, dass Anton ihnen drei leinene Küchentücher dagelassen habe und vor allem, dass Anton ihrem Vater zum Dank ein Geschenk gemacht habe, einen Überzieher aus einem Stoff, den man hier nicht kenne – sie reibt Daumen gegen Zeigefinger, um sich das Gefühl zu vergegenwärtigen und dass er ein ausländisches Etikett trug, und dass ihr Vater diesen Mantel liebte und ihn bis zu seinem Tod nur an Festtagen getragen habe.
Anton wollte ihn porträtieren, aber ihre Mutter habe das aus Angst vor der Gefahr abgelehnt, „Wenn man das bei ihnen gefunden hätte, hätte man sie auch eingesperrt!“ Wie fremdartig das für uns ist, die wir diese Zeit nicht erlebt haben und diese Leute nicht verstehen. Also habe Anton vorgeschlagen, dass Ilse die drei Kinder fotografieren solle, aber was daraus geworden ist, wisse sie auch nicht. Alle Welt sei damals in das Landhaus gegangen und sie glaubte, es gebe eine Zeichnung von ihrem Vater, die sie gerne hätte. Sie zeigte mir ein Foto ihres Vaters, der Anton verblüffend ähnlich sah, in Metzgerhemd und Hut. Man muss sich vorstellen, dass Anton und Ilse Fleisch liebten und das alles rationiert war.
Ich ging zurück in mein Hotel „Le Pont d’Or“, wo ich den Wirt M. Oddo, einen Einheimischen, fragte, ob er sich an diese Leute erinnern könne. Ja, Ernst war in seinem Alter und ging damals mit einem jungen Mädchen. Sie ist heute verheiratet, sechzig Jahre alt, nennt sich Madame Bagnis und wohnt in „Les Camps des Barjols“. Er riet mir ab, sie zu besuchen, denn ihr Mann könnte vielleicht eifersüchtig sein!„Ilse sei immer mit einem Köfferchen spazieren gegangen“. (vielleicht mit ihrem Fotoapparat),
Ich ging dennoch nach „Les Camps“, um die „sechzigjährige Verlobte“ zu sehen. Eine Arbeitersiedlung, schmutzig, niemand zu Hause. Verlassene Spielsachen im Garten verstreut. Sie ist also inzwischen Großmutter geworden. Ich habe nicht auf sie gewartet – was hätte sie mir sagen können? Vor ihren Enkeln hätte sie mir sicher nichts von ihrer ersten Liebe erzählt. Ich verließ Barjols mit seinen bizarren, von grünen Moos überwucherten Brunnen, die aussehen wie fette Kröten und mir war nicht wohl bei dem Gedanken, in ihrer Vergangenheit gewühlt zu haben. Anton, Ilse und Brigitte verließen Barjols an diesem 7, September. Coquillat versteckte sie unter der Ware und fuhr sie mit seinem Lieferwagen bis an die Schweizer Grenze, die sie heimlich zu Fuß überschritten. Ihre Ankunft wurde von den Schweizer Behörden wie folgt registriert: „M. Räderscheidt hat heimlich die Schweiz in Collonges bei Saléve, von Frankreich kommend, betreten, von wo aus er in das Internierungslager Eriswil im Kanton Bern überführt wurde.“
Diese genaue Information erhielt ich am 11. März 1982.

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