Anton Räderscheidt
Sanary sur Mer 1967
Der Maler der Neuen Sachlichkeit
1967
Erinnerungen von Gisèle Räderscheidt an eine Reise mit Anton Räderscheidt und ihren Söhnen Vincent und Pascal nach Sanary im Jahre 1967
Sanary sur Mer 1967
Anton Räderscheidt unterhielt eine diskrete Freundschaft zu Andre Bloch, dem Direktor der Zeitschrift ‚L’Architecture d’Aujourd’hui‘. Bloch hatte gerade den Hügel von ‚La Cride‘ gekauft und Auguste Perret einen Wettbewerb um die ersten Ferienhäuser gewonnen. Anton und Ilse waren auf der Stelle von den Entwürfen hingerissen und so wurde das Haus ‚Le Patio‘ in Sanary geboren.
Anton sprach wenig über seine Vergangenheit, aber wie oft habe ich ihn auf eine Tischdecke oder einen Schnipsel Papier in irgendeinem Bistro sein Haus oder sein Atelier zeichnen sehen – so oft, dass ich es schon mit geschlossenen Augen vor mir sehe. Ein schöner Traum…
Im Jahr 1967, auf der Rückreise aus den Ferien, die wir im Süden verbracht hatten, wollte Anton uns das Haus in Sanary zeigen. Der erste Eindruck dieses Wiedersehens nach so langer Zeit, das eine Welt von Erinnerungen in ihm heraufbeschwor, muss ihn so mitgenommen haben, dass er uns nur bis zur ‚Bar de la Marine‘ mitnehmen konnte. Das war eine Bar für Snobs, wie mir später der alte Fischer erzählte, der ‚Le Patio‘ während der Zeit der Besatzung gekauft hatte. Anton war nervös und hatte, glaube ich, nicht den Mut gehabt, sich dieser Konfrontation auszusetzen. Wir sind schweigend von Sanary weggefahren.
Zu dieser Zeit wusste ich noch nichts von dem Drama, das sich hinter dem hübschen Namen des Hauses verbirgt. Anton sprach nur vom Glück, vom Markt, vom Strand von Portissol, vom Sprungturm, von dem er sich jeden Morgen ins Meer stürzte, von seiner geliebten sengenden Sonne und von der glühenden Hitze, die er während seiner letzten Jahre so sehr vermisste. Für mich bedeutete Sanary nichts anderes als einen Luxus einer Privilegierten Klasse. Ich war jung, dachte nur an mich und an meine mir vom Krieg gestohlene Jugend in einem Paris, das mein Gefängnis war. Das Anton zweimal Sanary verlassen musste, um ins Lager ‚Les Milles‘ zu gehen, dass er mit Davring (Heinrich Maria Davringhausen) und Ernst (Ernst Meyer der Sohn von Ilse Salberg) aus dem ‚Phantomzug‘ gesprungen war, um nach Sanary zurückzukommen, all das war für mich ganz abstrakt. Davring und er erzählten ihre Geschichten wie großmäulig prahlende Soldaten. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, dass sie einer wie der andere ihre Vergangenheit rigoros verdrängten, diese beiden großen Maler der Neuen Sachlichkeit, die in ihrem Land wie Aussätzige behandelt wurden, alles hinter sich lassen mussten und in Frankreich ihr Exil suchten. Aber sie nahmen es mit Humor. Ich höre noch, wie sie lachen, dort auf der Terrasse des Colombe d’Or, in St.-Paul-de-Vence, wie sie sich lustig machen über die Funktionäre der Kunst, diese neuen Diktatoren im Talar der Professoren, kleine Kopisten mit Rentenanspruch, abgesichert bis zum bitteren Ende. Und diese künftigen Pensionäre erdreisteten sich, Bücher zu schreiben, Ausstellungen zu organisieren und ihrer beider Bilder zurückzuweisen. Sie hatten die Suppe, die sie sich eingebrockt hatten, auszulöffeln, auch wenn sie daran eingingen. Wie oft haben sie sich fragen lassen müssen “Warum sind Sie zurückgekommen?“ Davring kam nicht zurück, er blieb in Cagnes-sur-Mer. Er kam zum ersten Mal wieder nach Köln im Jahr 1952, um als Zeuge in Antons Scheidungsprozess auszusagen. Dies war eine der wenigen rosigen Seiten dieser Scheidung. Aber Sanary, das war von allem ein bisschen. – Ernst war deportiert worden – aber das war in Barjols. Sanary blieb der Badeort, mit all den schönen Bildern, die „die Jahre vorher“ illustrieren: die Taucher, Picknick in Portissol, der Nackte auf der Terrasse. Das Erbsenkleid, die schöne Schwimmerin und all die anderen, die Wirren überstanden haben und in den Garagen von Marseille, den Kellern von Barjols und in der Küche der Nachbarin zum Vorschein kamen. Nach Antons Tod habe ich Stück für Stück sein Leben in die Hand genommen. Ich glaube, ich habe es zu meinem eigenen gemacht. Ich begann, seine Vergangenheit zu recherchieren. Ich grub in meiner Erinnerung, ich grub in Schränken. – Was für ein Loch! – Wenn man Frankreich im Lieferwagen eines Metzgers, versteckt unter Fleisch, verlässt, um an die Schweizer Grenze zu kommen, nimmt man eben keine Familienfotos mit. Erst von 1978 an und mit großen Unterbrechungen habe ich mich ernsthaft an die Arbeit begeben. Nach Sanary ging ich zum ersten Mal im September 1978. Alles, was ich bei mir hatte, waren drei Passbilder und der Bauplan von ‚Le Patio‘. Auf dem Bürgermeisteramt wurde ich nicht gerade mit offenen Armen empfangen, auf dem Katasteramt auch nicht. Ein einsichtiger Angestellter gab mir die Adressen eines renommierten Architekten aus Sanary, der in ‚La Cride‘ wohnte – ein Name, den ich mir gemerkt hatte -, und von dem er dachte, er könne vielleicht etwas wissen. „Nach fünfzig Jahren ist das nicht leicht, Madame.“ Das wusste ich auch. Ich kam in La Cride an, in Antons Viertel. M. Mykélian sagte mir, er sei Antons und Ilses Nachbar und Freund gewesen – mir bot er nicht einmal einen Stuhl an. Alle Angestellten des Büros kannten ‚Le Patio‘ als „das Haus des Künstlers“, das in ihren Augen ein bisschen Le Corbusiers ‚maison du fada‘ glich;“ dieselbe Schule, eine Nummer kleiner“. Aber wenigstens gab es das Haus noch. Ein erster Erfolg. Ich brannte vor Neugier, aber gleichzeitig war mir bange. Ich fühlte mich wie eine Frevlerin. Aus all den Erzählungen Antons hatte ich mit meiner übermächtigen Phantasie in meinen Träumen das Haus rekonstruiert. Mit klopfendem Herzen läute ich bei Nr. 132 der Avenue des Pins. Eine richtige Straße, eine Avenue sogar, in der nun Haus an Haus grenzt, ein lächerliches schmiedeeisernes Portal in Form von Stockrosen und eines um einen Tierkreis herumlaufenden lateinischen Zitats „Dies ist mein Wunsch!“ Glücklicherweise war die neue Besitzerin schwerhörig. Ich konnte mich wieder fangen und hoffte zuerst sie würde nicht öffnen, damit mir erspart bliebe was schon dieses schnörkelige schmiedeeiserne Tor androhte. Aus diesem, in seiner Zeit revolutionären Haus hatte man einen putzigen, affigen Vorortbungalow gemacht. Mein armer Anton hätte sich im Grabe umgedreht, wenn er das gesehen hätte. Nun verstand ich, warum er sich fünfzehn Jahre zuvor damit begnügt hatte, in der ‚Bar de la Marine‘ einen Pernod zu schlürfen. – Er war ein Weiser –
Eine ältere Dame mit weißem Haar, in einen Morgenrock gehüllt, öffnet mir das Gitter. Mich an meinem Bauplan festhaltend, erzähle ich ihr meine kleine Geschichte. Sie begreift schnell, erzählt mir zuerst ihr Leben und dann die extravagante Räuberpistole von den verschiedenen Besitzern des Hauses. Meine Ohren wurden immer größer. Es war, als schlüge sie die erste Seite in einem Kriminalroman auf, der mit einem Verbrechen in einer angesehenen Familie begann und mit dem Tausch des Hauses gegen einen Fischdampfer – mit dem man flüchten konnte, natürlich – endete. Mit von der Partie waren ein böser Jude, ein höriger Vasall des antisemitischen Königs, ein guter Notar und die italienische Kommandantur, die ‚Le Patio‘, zu ihrem Hauptquartier gemacht hatte. Die Dame redet wie ein Wasserfall und hört erst auf, als ich sie frage, ob sie mir den Kaufvertrag zeigen könne, um mir Notizen für meine Dokumentation machen zu können. Sie bat mich, am nächsten Tag wiederzukommen, da mein unerwarteter Besuch sie in Verlegenheit gebracht habe. Ich hatte kein Telegramm geschickt, das ist wahr. Völlig verstört ging ich von dort weg. Alles, was von meinem Traumgespinst übrig geblieben war, war der große, heute riesige Baum, um den herum man das Haus gebaut hatte. Er ist nun gigantisch und stellt alles in den Schatten. Wie er, ist überhaupt alles aus der Form geraten. Den Innenhof hat man mit Glastüren und Glasfenstern verschlossen, um Heizkosten zu sparen. Ich wollte alles möglichst schnell sehen. um es hinter mich zu bringen. Die kleine Küche „eine Mitropa, wie in den Flugzeugen“, das war 1936 eine Sensation! Antons Atelier ist zerstückelt worden, ein Teil davon dient als Schlafzimmer, die Dunkelkammer Ilses als Rumpelkammer. Im Parkett des Ateliers haben sich die Spuren Ilses sperriger Fotopresse eingedrückt. Die Presse wurde weggegeben, ebenso „die Staffelei dieses Herrn. Ich habe sie meiner Nichte gegeben.“ Sie sagte abschließend, sie und ihr Mann hätten so oft an diesen Herrn gedacht und an diese israelische Dame, die dieses Haus mit so revolutionären Ideen und aus so guten Materialien gebaut hätten. Sie zeigte mir die nach vierzig Jahren immer noch intakten Steckdosen und den deutschen Warmwasserspeicher, der nach sechsunddreißig Jahren immer noch funktionierte. Ich war stolz darauf, eine Deutsche zu sein und verabscheute sie. Ich fühlte mich voller angestauter Aggressionen und rettete mich, indem ich ihr versprach, am nächsten Tag wiederzukommen, um das Haus zu fotografieren. Ich wollte dort nicht wieder hingehen. Dieses Erlebnis war meine erste direkte Konfrontation mit Antons Leben vor mir, eine Auseinandersetzung, der Anton immer um jeden Preis aus dem Weg gegangen war. War es aus weiser Voraussicht, oder einfach aus Gedankenlosigkeit? Überall finde ich diese Passivität wieder, die mir unablässig zu denken gibt. Anton hat mit dieser Gleichgültigkeit den Nutznießern des Krieges Vorschub geleistet und mich, die „Universalwitwe“ – ein schöner Titel – in einer schier unentwirrbaren Situation zurückgelassen. Aber am nächsten Tag treten meine Nikon und ich unsere Arbeit wieder an. Ich bin noch dümmer, als ich feige bin und fotografiere drinnen und draußen und überall. Das Schönste ist der Baum, mein stummer Zeuge, unter seinem Laub der Kamin und die Terrasse, auf der die ganze Familie nackt in der Sonne lag. Das erzählen sie sich vom Vater auf den Sohn. Das ist alles, was sie von dieser so diskreten Familie behalten haben, und von diesem so eleganten Herrn mit den grünen Augen… Nachdem ich von dieser erkenntnisreichen Reise zurück war, habe ich noch einmal Kantorowicz‘ „Exil in Frankreich“ gelesen. Bei seinem Besuch bei uns in Köln, im Jahr 1968, hatte er mir ein Exemplar dediziert. Von dieser Begegnung gibt es ein Foto, aufgenommen im Atelier: Anton ganz links auf der Bank, Kantorowicz ganz rechts, einen Katalog von Anton in der Hand. Zwei niedergeschmetterte Greise, deren spätere Krankheit schon ihre Schatten auf ihre Gesichter vorauswarf. Der eine wie der andere sind sie ohne die Ehre des Vaterlandes gestorben, ohne Rente, ohne Pauken und Trompeten. Ich besuchte Kantorowicz in Hamburg. Ich hatte mein kleines Tonbandgerät dabei, um unser Gespräch aufzuzeichnen. Als ich seines miserablen Zustands gewahr wurde und merkte, wie mühsam und schleppend er seine Worte zusammensuchen musste, habe ich mich geschämt. Er sagte mir müde, er habe doch alles über diese Zeit in seinem Buch gesagt. Das stimmt. Er hat es nicht nur alles gesagt, er hat Tag für Tag Buch geführt. Es sind keine Memoiren, sondern ein Tagebuch, das es mir ermöglicht hat, über Antons Exil und seine zwei Internierungen in ‚Les Milles‘ Aufschluss zu gewinnen und nachzuvollziehen.
© alle Rechte bei Gisèle Räderscheidt – Nachdruck auch Auszugsweise nur mit Genehmigung.